Zwischen Heuboden und Hip-Hop

106. Berliner Sechstagerennen will Neuanfang wagen

Großes Bild: Auch neu - der große Videowürfel im Velodrom für mehr Überblick

Gleich zu Beginn seines Auftritts bei der gestrigen Pressekonferenz klärt Valts Miltovics den wohl wichtigsten Sachverhalt: den Sportpalastwalzer wird es auch bei der 106. Ausgabe des Berliner Sechstagerennens geben. Quasi ein Beruhigungsmittel für die Traditionalisten dieser Veranstaltung. Denn vieles soll sich ändern bei den Sixdays in der deutschen Hauptstadt: straffere Präsentation, andere Gestaltung des Innenraumbereichs, Einführung von Jedermannrennen und - einer neuen Biermarke. Und eben auch andere Beschallung: weniger Gassenhauer - mehr Clubatmosphäre. Dafür sorgt der international bekannte DJ Tomekk. Aber: Hip Hop und "Heuboden" - funktioniert das? Das Ziel der Verantwortlichen ist abgesteckt: man will neue Publikumsschichten für das in die Jahre gekommene Ereignis gewinnen, ohne die Stammgäste auf den Plätzen unter dem Hallendach des Velodroms - im Fachvokabular "Heuboden" genannt - zu vergraulen.

Britischer Veranstalter hat einen Plan

Erfolg und Akzeptanz müssen sich, so der Plan, nicht auf Anhieb einstellen. Etwa drei bis fünf Jahre gibt sich sich der Veranstalter, die britische Madison Sports Group (MSG), um das neue Konzept in Berlin einzuführen. Schon im Herbst 2015 übernahm die Agentur für Sportevents den Staffelstab vom bisherigen Gesellschafter, Reiner Schnorfeil. Eine Entscheidung mit Weitblick: der "Markt" für Sechstagerennen ist zuletzt eingebrochen. Allein in Deutschland haben die früheren Standorte Dortmund, Köln, Frankfurt, Stuttgart oder München das Handtuch geworfen. Übrig geblieben sind lediglich Bremen - und Berlin. Der Unterschied zwischen den beiden Rennen: die Veranstaltung in der Hauptstadt wird im Rahmen einer von der MSG organisierten Serie ausgetragen. Nach London und Amsterdam ist Berlin die dritte Station, es folgen Kopenhagen und das mit immerhin 300.000 Euro dotierte Saisonfinale im März auf Mallorca. Alle Rennen finden im ähnlichen Ambiente statt - moderner, gestylter. Stargäste wollte der für Berlin zuständige Organisator Valtovics noch nicht preisgeben. Es ist aber anzunehmen, dass sie nicht von ähnlichem Kaliber sind wie jüngst bei der Veranstaltung alter Schule in Bremen: dort waren u. a. Ex-Fußballer (und heutiger Wrestler) Tim Wiese und Ailton geladen.

Absagen werfen die Organisatoren nicht um

Gefragt: Valts Miltovics (l.), Organisator der Berliner Sixdays, und Mark Bardon (2. v. l.), CEO der Madison Sports Group

Im Vordergrund steht aber nach wie vor der Sport, erklärt Mark Bardon. Er ist "CEO" der Madison Sports Group, also Chef, und eigens aus London eingeflogen, um der Eröffnung der neuen Sixdays beizuwohnen. Bardon und sein Statthalter in Berlin, der Lette Valtovics, sehen dabei ein bisschen wie ihre besten Kunden aus. Keine 40, hipstermäßig gekleidet, locker , umgänglich, international. Doch ohne Qualität im Fahrerfeld kein Sechstagerennen. Bardons Ankündigung vor anderthalb Jahren, 2017 etwa Tour-Sieger Bradley Wiggins und den vor allem von deutschen Straßensprintern gefürchteten Mark Cavendish an den Start zu bringen, ging dabei schon mal nicht auf. Die Beiden fuhren zwar gemeinsam zum Auftakt der Rennserie ihr Heimspiel in London, doch Wiggins beendete im Anschluss seine Profikarriere, während Cavendish der Vorbereitung auf die Freiluftsaison den Vorzug gab.

Absagen und Änderungen, auch kurzfristiger Art, gehören aber zum Geschäft. So musste der für Berlin vorgesehene Christian Grasmann beim gerade zu Ende gegangenen Rennen in Bremen mit Fieber vom Rad steigen, Theo Reinhardt gab wegen Sitzproblemen auf. Ihr Start entscheidet sich wohl erst unmittelbar vor Beginn, die jeweiligen Partner in ihren Teams müssen sich aber keine Sorgen machen - Rennleiter Dieter Stein, Ex-DDR-Bahnradfahrer, erhielt in den letzten Nächten Anrufe von einigen Fahrern, die Bereitschaft erklärten, als Ersatz in Berlin anzutreten.

Bau' auf: Gestern waren die Vorbereitungen kurz vor dem Abschluss

Belgisches Top-Team in Berlin am Start

Topfavoriten für die Berliner Sechstage sind dabei Kenny de Ketele und Moreno de Pauw. Das belgische Duo konnte beide bisherigen Rennen der Serie gewinnen: in London gegen die Lokalmatadoren Wiggins/Cavendish, in Amsterdam gegen das deutsche Paar Leif Lampater und Marcel Kalz. Letztere werden auch in Berlin als Hauptkonkurrenten von de Ketele/de Pauw gehandelt. Kalz fuhr sich in Bremen mit dem Weltklassefahrer Iljo Keisse schon mal warm: er gewann das Rennen in der Hansestadt. Keisse wird in Berlin aber zum Bedauern der Fachleute gar nicht am Start sein, mit Lampater steht Kalz aber ein Fahrer zur Seite, der ihm in zahreichen Rennen erfolgreich zur Seite stand. Wermutstropfen: während er in Bremen zum Sieg fuhr, wurde dem Hauptstädter Kalz - dit is' Berlin - die für das Velodrom vorgesehene Rennmaschine aus seinem Keller gestohlen. Ob das Ersatzrad auf Anhieb "passt", bleibt also abzuwarten.*

Lokalmatador Levy angeschlagen in die Sprintkonkurrenz

Auch bei den Sprintern gab es im Vorfeld eine Hiobsbotschaft hinzunehmen: der Cottbusser Maximilian Levy zog sich bei einem Trainigssturz in seiner Heimatstadt vor nicht einmal 14 Tagen einen Schlüsselbeinbruch zu. Doch wer den Träger zahlreicher nationaler wie internationaler Titel kennt, weiß, dass er nicht so klein bei gibt. Gerade bei seinem "Hausrennen" will er unbedingt am Start sein und hat noch nicht zurückgezogen. Dennoch dürfte Levy für die ganz schnellen Endgeschwindigkeiten im Velodrom durch das "Handicap" nicht in Frage kommen. Das Feld der schnellen Männer ist aber in jedem Fall stark besetzt: ob Joachim Eilers, Doppel-Weltmeister 2016, der Tscheche Tomas Babek (Doppelsieger EM 2016), Teamsprint-Spezialist René Enders (Bronze Olympia 2008 und 2012), der Doppel-Olympiasieger in derselben Disziplin, Phlip Hindes (GB), der US-amerikanische Publukumsliebling Nate Koch oder auch Bahnrekordler Robert Förstemann - jeder Teilnehmer hat seine besonderen Qualitäten.

Starker Frauenwettbewerb, Steher mit EM-Siegern

Auch beim Sechstagerennen der Frauen geht es hochkarätig zu mit den britischen Bahn-Olympiasiegerinnen Laura Kenny und Katie Archibald sowie den Straßen-Weltmeisterinnen Amalie Dideriksen (DK) und Giorgia Bronzini (ITA). Auch die deutschen Fahrerinnen Charlotte Becker (Berlin) und Stephanie Pohl (Cottbus) dürfen sich zumindest Außenseiterchancen ausrechnen. Die klassischen Rennen der Steher - u. a. mit dem aktuellen Europameisterpaar Schmidt / Bäuerlein - dürfen natürlich ebenfalls nicht fehlen im Programm der Berliner Sixdays.

Berliner Sixdays bleiben ein Ereignis

So dürfte, wenn am heutigen Donnerstag um 19.28 Uhr der Startschuss ertönt, vom sportlichen Aspekt her "der Tisch gedeckt sein" für die Radsportfans. Die Änderungen im Umfeld mögen dem einen oder anderen Traditionalisten weniger schmecken. Ähnlich wie im Fußball werden hier neue Käuferschichten gesucht - mit einem feinen Unterschied: in der beliebtesten Sportatrt weltweit geht es um immer weitere Steigerung von Gewinnen, beim Sechstagerennen (noch) um die Sicherung dessen Existenz. Kann man im Fußball das zunehmende "Eventpublikum" mit gewissem Recht beklagen, verhält es sich gerade mit den Berliner Sixdays wiederum anders.

Seit ihrem Bestehen waren diese immer auch ein gesellschaftliches Ereignis, ein Stück Berliner Lebensart, das am Rande der Rennen seine Aufführung fand. Insofern ist die Veränderung vielleicht gar nicht so groß, wie manche befürchten mögen. Im Vergleich zu den Zeiten, als Reinhold Habisch - besser bekannt als "Krücke" - sich, wenn ihm das sportliche Geschehen im Oval zu wenig hergab, zur Stimmungskanone aufschwang und die Zuschauer zur Melodie des Sportpalastwalzers durch seine Pfeifeinlagen zum Selbstabfeiern animierte.

*Korrektur: Kalz' Rad, mit dem er vor zwei jahren in Berlin gewann, wurde bereits vor den Bremer Sixdays gestohlen - er siegte dort also bereits mit Ersatz.

Text + Bilder: Berlinsport-Aktuell / Hagen Nickelé